Pakistan in Not

10. September 2010
Stefan Schaaf
Bericht zum Jour Fixe am  7. September 2010
Von Stefan Schaaf

20 Millionen Menschen sind von der Flutkatastrophe betroffen, die seit Ende Juli Pakistan heimsucht. Acht bis zehn Millionen Pakistaner sind nach Angaben der UN dringend auf Hilfe angewiesen. Vier Millionen haben kein Dach mehr über dem Kopf. Der ungewöhnlich heftige Monsunregen – in Peshawar fiel an einem einzigen Tag soviel Regen wie in fünf Monaten in Berlin – überflutete das fruchtbare Indus-Tal und zerstörte die Ernte auf einem riesigen Gebiet. Tausende Dörfer sind unbewohnbar, Straßen und Felder auf Monate nicht nutzbar. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon sprach von einem „Tsunami in Zeitlupe“ und der schlimmsten Naturkatastrophe, die er je gesehen habe.

Auch wenn sie als Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Lahore die Ereignisse verfolgt hatte, so war Britta Petersen schockiert über das Ausmaß der Flutschäden, die sie Mitte August in der Region um Peshawar erlebte. „Wenn man von der Hauptstraße in die Dörfer abbiegt, bietet sich ein unglaubliches Bild der Zerstörung. Die Felder sind bis zum Horizont mit Schlammmassen bedeckt“, sagte sie beim Jour Fixe zum Thema „Was kommt nach der Sintflut?“, der sich auch mit den politischen Folgen der Überschwemmungen für Pakistan befasste. „Die schlimmsten Folgen der Katastrophe stehen Pakistan noch bevor“, erwartet Petersen, „zunächst eine Nahrungsmittelkrise“. Das Land werde noch lange auf Lebensmittelspenden angewiesen sein, denn niemand könne sagen, wann die Felder vom Schlamm befreit sein werden und welche Gifte aus Industrieanlagen oder Gerbereien mit ihm über das Land ausgebreitet wurden.

Es dauerte lange, bis die internationale Hilfe in Gang kam. Sie ist bis heute nicht ausreichend, und sie hat etwa eine Million Betroffenen noch nicht erreicht, da jegliche Infrastruktur mit den Fluten weggeschwemmt worden ist. Die Mehrheit der Pakistaner stünden unter Schock, sagte Petersen, sie stellen sich die Frage, warum ihr Land nicht nur Krieg, Armut, Erdbeben und Bombenattentate erdulden müsse, sondern nun auch noch eine solche Naturkatatstrophe. Während manche Islamisten sie als eine Strafe Gottes darstellen, bedeutet das Leid für moderatere pakistanische religiöse Kräfte eine Prüfung ihres in ihren Augen „auserwählten“ Landes.

Ein Land mit schlechtem Image

Das auffällige Desinteresse Europas am Schicksal der pakistanischen Flutopfer hänge auch mit dem schlechten Image des Landes zusammen, sagte die Grünen-Bundestagsabgeordnete Ute Koczy. „Pakistan wird als ein Land gesehen, in dem das Geld versickert“. In Deutschland gebe es kaum eine emotionale Verbindung zu den Menschen in Pakistan, obwohl es dort eine erfreuliche Entwicklung von der Militärherrschaft zu einer demokratischen Regierungsform gab. Wie sehr die Hilfsbereitschaft vom Negativbild eines Landes gebremst werden könne, habe sie sehr erschüttert, sagte Koczy. Die Flut sei schon fast wieder aus den Medien verschwunden.

Aber das eigenartige Doppelspiel des pakistanischen Militärs und Geheimdienstes, die zwar den Kampf gegen militante Islamisten führen, aber nicht in der Lage sind, die Führung der afghanischen Taliban und al-Qaidas dingfest zu machen, sie womöglich unterstützen oder gar beschützen, sorgt im Westen für Misstrauen. Nur noch Kopfschütteln löste die Europareise von Präsident Asif Ali Zardari auf dem Höhepunkt der Flutkatastrophe aus. „Der Präsident hat nicht begriffen, wie Medien funktionieren und was seine Aufgabe ist“, sagte Koczy. Doch all das sei keine Begründung, einem Volk in Not so wenig Hilfe zu gewähren. Sie kritisierte auch die Bundesregierung: „25 Millionen Euro Soforthilfe sind halb so viel, wie gebraucht wird“. Und das Technische Hilfswerk habe anders als in Haiti diesmal keinen Großeinsatz unternommen, obwohl gerade nach Flutkatastrophen Hilfe bei der Trinkwasserversorgung nötig sei.

Christian Wagner, Südasienexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, ergänzte, dass jede Regierung mit einer solchen Katastrophe überfordert wäre. Er skizzierte die Herausforderungen, die sich in den nächsten Monaten stellen: „Drei bis fünf Millionen Menschen müssen untergebracht werden“, weil ihre Dörfer zerstört sind. Es müssten also zehn riesige Flüchtlingslager mit jeweils einer halben Million Menschen aufgebaut werden, und dort müsse sich jemand um die Versorgung der Menschen und um Recht und Ordnung kümmern – „ein logistischer Albtraum“.

Islamisten saugen den Unmut auf

Als alternative Kraft, die im Lande Hilfe leistet, präsentieren sich die Islamisten. In Lahore sammeln selbst verbotene Gruppierungen inzwischen offen auf der Straße Spenden, sagte Petersen. Für sie bieten solche Lager fruchtbares Terrain zur Rekrutierung neuer Anhänger. Von der Katastrophe profitiere auch das Militär: Es stellt sich als tatkräftige und gut organisierte Truppe im Kampf gegen das Chaos dar – in deutlichem Kontrast zur untätigen Zivilregierung. Die Generäle haben nun auch einen Vorwand, die angekündigte neuerliche Offensive gegen die Islamisten in der Grenzregion zu Afghanistan hinauszuzögern. Christian Wagner hielt es aber für unwahrscheinlich, dass das Militär die Gelegenheit zu einem neuerlichen Putsch ausnutzt. Die Generäle würden damit ihren seit zwei Jahren mühsam erarbeiteten Ruf aufs Spiel setzen und Sanktionen des Westens provozieren. Außerdem kontrolliert das Militär die Bauwirtschaft in Pakistan und kann sich auf gute Geschäfte beim Wiederaufbau einstellen.

Petersen beschrieb die wachsende Rolle der Islamisten im komplizierten und widersprüchlichen politischen Leben Pakistans. Sie saugten den Unmut der armen Bevölkerung auf und kanalisierten ihn in religiösen Eifer. Gleichzeitig richtet sich die Gewalt der militanten Islamisten zunehmend gegen religiöse Minderheiten wie die muslimischen Ahmadiya oder die Schiiten, aber auch Hindus würden eingeschüchtert. Die religiöse Vielfalt Pakistans, auch innerhalb der muslimischen Gemeinde, weiche einem strikten Wahhabismus saudischer Prägung, beobachtet sie. Die Zivilgesellschaft, die mit der Bewegung der Anwälte den Weg zur Demokratie eröffnet hatte, sei bedroht und müsse sich zurückziehen. Auch Künstler und Musiker könnten nicht frei agieren. Die politischen Institutionen Pakistans stellten sich dieser Entwicklung nicht entgegen, sondern agierten im vorauseilenden Gehorsam.

Dennoch ist der Ruf nach Reformen nicht verstummt: Es gebe Demonstrationen für Frauenrechte und Unterstützung für ein Gesetz gegen sexuelle Gewalt, wurde aus dem Publikum angemerkt. Wenn der Westen Pakistan mit staatlichen Geldern helfe, sei es nötig, diese Hilfe so zu gestalten, dass sie der Demokratisierung nütze. Erst seit zwei Jahren werden die demokratischen Institutionen wieder aufgebaut, man müsse dies weiter gezielt unterstützen, forderte Petersen. Vor allem müsse man die Beschaffungswünsche des Militärs kritisch prüfen, sagte Koczy. Christian Wagner sieht im Vorfeld der Parlamentswahlen im übernächsten Jahr Chancen für Fortschritte: „Die Parteien wollen sich als Wiederaufbauer profilieren“. Die Taliban hingegen „haben keine Baubrigaden, und sie wollen keine Schulen bauen“.


(Teaserfoto: Von
Oxfam International auf flickr.com, Bestimmte Rechte vorbehalten)

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